Irgendwie geht's weiter
Außergewöhnliche Schicksale im 19. Jahrhundert
eine Sammlung von wahren
Lebensgeschichten
erforscht und aufgeschrieben von
Gisela Dirac-Wahrenburg
Johanna
Maria Louise
Friedrich-Löffler-Gattiker-Bosshard-Geuss-Wilkin
von Danzig in die USA - 4 Ehen, 7 Kinder
Johanna und Hans Bosshard zur Zeit ihrer Eheschließung
1. oo 9 Mai 1899
2 Kinder:
2. oo 3 Dez 1905 New York
5 Kinder: 3. oo Richard Carl Geuss * 14 Jan 1877 Hildburghausen, Deutschland 4. oo 1952 Fred Benton Wilkin * 6 Feb 1880 Wichita, Kansas + 20 Apr 1964 Stockton CA
Meine „Johanna-Nachforschungen“ begannen, als ich noch in Wädenswil am Zürichsee wohnte. Anfang des Jahres 1997 bekam ich eine e-mail aus Kalifornien:
Was sollte ich wohl damit anfangen? Und warum „Rechnung“? Dann kam ich dahinter, dass William (Bill) Bosshard seinen englischen Text durch den Google Übersetzer gejagt hatte. Und Rechnung ist nun mal die Übersetzung von Bill. Und auch der „halbe“ Bruder macht Sinn, wenn man weiß, dass der Google Übersetzer nicht denken kann. Heute funktionieren die automatischen Übersetzungen bedeutend besser.
Nach unzähligen e-mails, etlichen Stunden der Nachforschungen, mühsamen Übersetzungen von alten Briefen und einem wertvollen Kontakt mit dem Wädenswiler Historiker Peter Ziegler kam Johannas Geschichte langsam zu Tage – das ungewöhnliche Leben einer mutigen, leidgeprüften Auswanderin.
Johannas Lebensgeschichte Als Johanna mit 15 Jahren Danzig verließ, um nach New York auszuwandern, konnte sie nicht ahnen, was sie dort erwartete: vier Ehemänner, vier Mal Witwe, sieben Kinder und ein aufwändiger Umzug quer durch die USA von New York nach Kalifornien um 1912. Ihr zweites Kind starb im Alter von knapp 4 Jahren bei einem Zugunglück in der Schweiz, während sie selber mit ihrem zweiten Ehemann in New York weilte und sich um ihre 6-jährige Tochter Ida und die 5 Monate alte Lina kümmerte.
Es ist unklar,
weshalb und mit wem Johanna im Jahr 1896 ausgewandert ist und bei wem
sie anfangs gewohnt hat. Die Vermutung liegt nahe, dass sie mit dem
zweiten Mann ihrer Mutter, Robert Carl Adolph
Cantow, nicht zurechtkam und deswegen noch im Jahr der Heirat der
beiden 1896 ihr Heimatland, ihre Mutter Johanna
Elise Pauline Selma Friedrich-Löffler-Cantow sowie vier
Geschwister und Halbgeschwister für immer verließ. Zwei Jahre nach
Johannas Auswanderung wurde ihre Halbschwester
Charlotte Cantow geboren, die sie nie kennenlernte.
Das unstete Leben von Johannas Mutter Elise
Das Leben ihrer
Mutter Elise mit sechs Kindern von verschiedenen Männern war ein
einziges Chaos. Johannas großer Bruder
Julius
Wilhelm Gotthilf Friedrich wurde 1877 unehelich geboren. Johanna
wurde am 28. April 1881 ebenfalls unehelich unter dem Mädchennamen ihrer
Mutter geboren. Ihre Eltern heirateten jedoch am 3. November 1881 und
aus Johanna Friedrich wurde Johanna Löffler. Löffler war Johannas 2.
Familienname, den sie im Laufe ihres Lebens noch viermal wechselte.
Die Geburtsurkunde von Johanna Friedrich sowie eine Randnotiz, dass der Vater des Kindes sie sieben Monate später offiziell anerkannte und sie danach den Namen Löffler trug.
Julius Rudolph Löffler und Elise hatten 1882 und 1883 zwei weitere Kinder: Ida und Rudolf. Im Jahr 1894 – Elise war bereits von Rudolph Löffler geschieden – gebar sie eine Tochter, Sophie Helene Elise Löffler. In der Geburtsurkunde ist kein Vater angegeben. Johannas Schwester war also erst zwei Jahre alt, als ihre Mutter Robert Cantow heiratete und Johanna nach Amerika auswanderte.
In einem Brief von 1899 gratuliert Elise Löffler ihrer Tochter zur bevorstehenden Hochzeit mit Eduard Gattiker, lässt aber durchblicken, wie gekränkt sie über die Auswanderung ihrer Tochter ist:
"Nun, liebe Johanna, was ich dir noch ans Herz legen will. Vergiss du nicht, dass du noch eine Mutter hast und wenn du jetz verheirathet bist, dass du doch stets an deine Mutter mit ein par Zeilen denken wirst. Denn stelle dich in meine lage, wie schwer es mir ist, ein Kind so weit in die Welt zu fahren. Wie viele Tränen habe ich schon verloren? Du konntes dich schon drinnen baden. Und doch darf ich mir nichts merken lassen was mich kränkt.
Möge dich Gott nich solche schweren Stunden schicken, die ich schon habe
tragen müssen. Lieber will ich schon noch mahl so viel leiden, wenn dich
nur Gott Glück und Segen geben möchte." 1. Heirat mit Eduard Gattiker Johanna blieb zunächst in New York und heiratete am 9. Mai 1899 mit 18 Jahren den sechs Jahre älteren Schweizer Eduard Rudolf Gattiker. Eduard war 1897 von Wädenswil am Zürichsee nach New York ausgewandert und arbeitete dort als Barkeeper. Sein auf der Passagierliste eingetragener ursprünglicher Beruf war Friseur. Im Jahr 1900 wohnte das junge Paar in der 3rd Avenue in Manhattan, New York. Der Antrag auf amerikanische Staatsbürgerschaft lief.
Im Oktober 1901 kam Lina Johanna zur Welt, im September 1903 Eduard Hermann.
Die kleine Familie kam zurecht. Doch im August 1904 starb Eduard ganz
plötzlich. Johanna war eine 23-jährige Witwe mit zwei Kindern im Alter
von einem und drei Jahren. Was tun?? Vorübergehendes Leben in der Schweiz Da kam die Einladung ihrer Schwiegermutter aus der Schweiz gerade Recht. Allerdings gab es ein kleines Problem. Johanna war einem Freund ihres Mannes näher gekommen, der sie nach Eduards Tod selbstlos unterstützt hatte. Hans Bosshard kam ebenfalls aus Wädenswil. Er war drei Jahre später als sein Freund nach New York ausgewandert.
Hans wollte Johanna heiraten, mit ihr zusammen eine Familie gründen und die beiden Gattiker-Kinder aufziehen. Das war der Plan. Aber zunächst einmal wollte Johanna ihre Schwiegermutter in Wädenswil besuchen und gleichzeitig auch Hans’ Verwandte dort kennenlernen. Die Überfahrt wurde ihr höchstwahrscheinlich von der Schweizer Familie bezahlt, so dass das Finanzielle kein Hinderungsgrund war.
Irgendwann Ende 1904 machte sie sich mit ihrem 1 ½-jährigen Sohn Eddie
auf den langen Weg über den Ozean. Die kleine Lina ließ
sie bei
Freunden in New York. Vier Monate später, am 22. April 1905 verließ
Johanna in Antwerpen zum zweiten Mal Europa und traf am 2. Mai 1905 auf
der ZEELAND erneut in New York ein. Sie reiste allein. Eddie war in
Wädenswil geblieben. Auf der Passagierliste gab Johanna als Ziel die
Adresse ihrer Freundin Mrs. Joseph Budd an: 86 North 6th Street,
Brooklyn, New York. Vermutlich war ihre kleine Lina dort untergekommen.
Johannas Sohn Eduard bleibt bei seinen Großeltern in der Schweiz Nun konnte Johanna in Ruhe ihre zweite Ehe vorbereiten und für sich, Hans und Lina eine geeignete Wohnung suchen. Es ist anzunehmen, dass Hans Bosshards Schwestern Ida und Rosa, die im Juli 1907 ebenfalls nach New York auswanderten, den kleinen Eddie wieder zurück zu seiner Mutter bringen sollten.
Über den Grund, warum Johanna nicht auch ihre Tochter Lina mit in die Schweiz genommen hat, kann man nur spekulieren. Vielleicht war eine Reise mit zwei kleinen Kindern einfach zu mühsam. Oder Johanna brauchte die kleine Lina als „zwingenden Grund“, um nach New York zurückkehren zu müssen. Wahrscheinlich befürchtete Johanna – und zwar zu Recht – dass Eduards Mutter sie vereinnahmen und überreden würde, mit den beiden Kindern ein neues Leben in der Schweiz zu beginnen. Dabei hatte sie doch Pläne mit Hans Bosshard, was die Mutter ihres ersten Mannes sicher nicht gutheißen würde – zumindest nicht so kurz nach Eduards Tod.
Eduards Mutter, Lina Schweizer, verwitwete Gattiker, geborene Müller war offensichtlich eine ziemlich resolute Dame. Nach dem Tod ihres Mannes Heinrich Gattiker (1847-1894) heiratete sie einen wohlhabenden Witwer, den Wädenswiler Architekten Karl Schweizer. Lina hatte aus erster Ehe vier Kinder: Eduard, Hermann, Ernst und Lina Gattiker. Ernst und Lina starben als Kinder. Eduard war ausgewandert und starb in New York. Hermann war zwar verheiratet, hatte aber keine Kinder. Er war Wirt im Restaurant „Schiffli“ in Wädenswil.
Lina Schweizer hatte also im Jahr 1904 ihren ersten Mann und drei Kinder verloren. Außer Johannas Kindern hatte sie keine Enkel und würde auch keine anderen bekommen.
Ihr zweiter Mann Karl hatte zwar auch Kinder (Clara, Alma, Karl, Oskar und Max Schweizer), aber Stiefkinder waren eben nicht das gleiche.
2. Heirat mit Hans Bosshard Nach Einhaltung des Trauerjahres heirateten Johanna und Hans Bosshard am 3. Dezember 1905 in Manhattan. Als sie im Mai 1907 die furchtbare Nachricht vom Tod des kleinen Eddie erreichte, wohnten Johanna, Hans, Lina und das gemeinsame Baby Ida in der 1st Avenue 1210 in New York City. Es war Clara Schweizer, welche die Hiobsbotschaft überbrachte. Clara, eine Tochter des Architekten Karl Schweizer, was 1902 ebenfalls nach New York ausgewandert. Sie arbeitete bei einer Familie Benedikt in Manhattan als Kindermädchen und Haushälterin.
Es ist bezeichnend, dass Lina und Karl Schweizer nur über ihre Tochter Clara mit Johanna kommunizierten. Zu dem sowieso schon gespannten Verhältnis kam das schlechte Gewissen. Schließlich war der kleine Eddie unter ihrer Obhut tödlich verunglückt. Dass sie – wie im Brief behauptet – die Adresse von Johanna nicht kannten, wage ich zu bezweifeln. Immerhin hat Johannas Sohn bei ihnen gewohnt, und sie haben ihr doch sicher ab und zu brieflich vom Befinden des kleinen Eddie berichtet. Karl Schweizers Brief mit der Todesnachricht ist ziemlich formell und auf dem offiziellen Briefpapier des Architekten geschrieben. Bei der Transkription habe ich die Rechtschreibung und die anschaulichen Dialektausdrücke beibehalten. Zum besseren Verständnis wurde lediglich die Interpunktion etwas angepasst.
Wädenswil, den 16. Mai 1907 Liebe Klara! Heute muss ich dir leider die traurige Mitteilung machen, dass heute Nachmittag 3 ¾ Uhr unser Herzkäfer Eddyle vom Bahnzug vor dem Haus überfahren wurde und nach einigen Minuten gestorben ist. Die liebe Mama war im Gartenhäusli und da wollte Eddy sie zum Kaffe machen holen. Die liebe Mama ist untröstlich. Es scheint, dass Eddyle kaum die Barriere geöffnet hatte als der Zug heranbrauste und ihn durch den Winddruck bis gegen seitens schleuderte. Der Zug hielt sofort an und Doktor Hess war im Zug, stieg aus, und konstatirte einen Schädelbruch. Der Tod trat rasch ein und Eddyle hatte keine Schmerzen durchzumachen. Sonst ist er am ganzen Körper nicht verletzt. Wie es dem Pfarrer genehm ist, wird die stille Beerdigung auf Samstag Abend 4 Uhr bestimmt. Da wir leider die Adresse der Johanna nicht wissen, ersuchen wir dich die Trauerbotschaft derselben möglichst schonend nach deinem Gutfinden mitzuteilen. Indessen unsere Grüße von den trauernden Hinterlassenen Karl und Lina Schweizer
Johanna war außer sich vor Schmerz. Und als sie die Todesanzeige von Eddie sah, die Clara ihr zeigte, verlor sie die Fassung.
„Innigst geliebter, unvergesslicher Enkel und Brudersohn!“ Als ob der Kleine keine Mutter mehr gehabt hätte! Johanna wurde in der Anzeige mit keinem Wort erwähnt.
Zeitungsartikel vom 17. Mai 1907
Doch wie war es zu dem Unglück gekommen? Das Haus der Schweizers lag
direkt neben den Bahngleisen. Die Gleise teilten das Grundstück der
Familie in zwei Teile. Auf der Straßenseite
lag das große
Wohnhaus, auf der Seeseite befand sich der Garten mit einem
Gartenhäuschen. Die Bewohner des Hauses hatten einen privaten
Bahnübergang, der über die Gleise zum Garten führte. Anscheinend gab es
bereits zu jener Zeit eine Barriere, aber kein abschließbares
Gartentor – so wie das heute der Fall ist. Um die Jahrhundertwende
fuhren die Züge zwischen Zürich und Wädenswil noch eingleisig, und es
gab relativ wenig Verkehr.
Das vom Architekten
Karl Schweizer erbaute Haus im Jahr 1997.
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Hier ist der erschütternde Bericht von Lina Schweizer, die das Unglück in einem Brief an ihre Stieftochter Clara in allen Einzelheiten beschreibt. Wädenswil, den 21ten Juli 1907 Liebste Clara! Mein lieber Eddie war ein Engel auf der Welt, aber auch sicher ein Engel im Himmel, ein Bürger im Himmel, wen schon auf der Welt heimatlos. Es kostete noch viel Mühe, dass er doch als Wädenswiler noch eingetragen wurde. Herrmann ließ nicht nach und sagte, sie haben ja doch nichts mehr für den lieben Kleinen zu befürchten, sonst hätte er als Heimatlos in der Kirchlichen Anzeige müssen ausgeschrieben werden. Nun haben sie es auf sich genommen (Herrn Schoch) und Ihn als Gemeindebürger von Wädenswil eingetragen. Da lege ich die Kirchliche Anzeige auch bei, wo Vater und Mutter mit Nahmen ausgeschrieben sind. Da wird sich Johanna können zufrieden stellen. Sie ist ja Schuld, dass die armen Geschöpfe von Eduard selig Heimatlos sind um der geringen Kosten willen. Dass in der Todesanzeige Johanna nicht steht, kann man dem lieben Papa nicht zürnen, es musste schnell gemacht sein, und er sagt mir, er habe gar nicht nach Amerika gedacht. Ihr glaubt gar nicht, wie furchtbar wir alten Leute daran waren. Ich hatte erst nach zehn Tagen die Todesanzeige gelesen. Das ist uns nicht die Hauptsache, ob wir stehen oder nicht im Blatt. Alles übrige hat Hermann besorgt.
Nun, liebe Clara, will ich dir den ganzen Verlauf mittheilen. Am 16. Mai Mittags nach dem Essen fragte mich Eddeli, ob er zu Stutze-Kinder dürfe im Seehüsli zum Reifle. Ich sagte ja, und er ging mit Freuden. Nachher bakte ich auf dem Wafeleisen Bräzeli. Da ging ich das erste Mal in Garten. Da sagte mir Herrn Hofmann ich solle mein Spinat ausreißen und das gute noch davon nehmen. Ich ging schnell daran und dachte, es lange gerade die Zeit vor dem Kaffemachen.
Da sah der liebe Papa um halb 4 Uhr Eddeli auf dem Trottoir am Haus vorbei, und er rief ihm vom Bureau aus: Eddeli komm heim, wir trinken bald den Kaffee. Er winkte, wie wenn er nicht kommen wollte und lief vorwärts gegen Fürrers. Da dachte Papa, er gehe nochmals zu’s Stutze. Diese Kinder brachten ihn meistens zur Essenszeit. Da muss er aber doch umgekehrt haben. Papa sagte, es sei gar nicht lang gegangen, so komme Eddeli unter seine Bureauthüre und sagte: Papa der Kaffee steht noch nicht auf dem Tisch. Da ging er mit Eddeli in die Küche, ob ich den Kaffee mache. Da war noch nichts ob. Da gab ihm Papa eines von den Guzi, welche ich zum troknen verlegt hatte. Er wünschte sich eines und habe sich höflich bedankt dafür.
Von dort seien sie miteinander in die Stube ans Fenster, und Papa sagte, Mamma sei im Gartenhäusli. Eddeli kletterte auf den Simsen herauf und rief mir nach Leibeskräften: „Mamma, komm Kaffee machen. Schau Mamma, Papa hat mir ein Guzi geh aus der Küche.“
Das letztere hatte er mir zweimal gerufen. Und wie ich sagte: Ich komme grad, ich bin grad fertig, da kam ein Luftzug, und Papa stellte Eddeli abe, und machte das Fenster zu. Als er sich kehrte, sah er Eddeli nicht mehr. Als er im Gang die Thüre so 10 ctm weit offen gesehen hatte, dachte er, jetzt sei er im noch durch und kehrt um wieder ans Fenster und rief: Eddeli, Eddeli, in der Meinung, er könnte in der Zeit um die Hauseke herum sein. So hielt der Zug schon an, und unser Sonnenschein für immer verloren.
Liebe Clara, diesen Schreck ist, ich kanns nicht beschreiben. Ich war so in der Mitte dess Gartens, als der Zug anhielt.
Da sah ich eine Frau aussteigen in einem hellgrauen Kleid. Und bis ich am Hag oben war, stieg die Frau wieder ein und sagte in den Wagen hinein: es ist ein Bueb mit dem Lederschürzli. O weh, ich rief: Ach Gott, das ist mein Eddeli, mein Eddeli, und eilte davon. Weiß nicht wie, ich schlof unter den Zug. Als ich fast durch war, so machte mir der Kontukteur fürchtige Vorwürfe. Ich schaute so, ob das mich anging, und er sagte: Ja, ich meine Sie, und half mir noch auf mit dem bemerken: Wollt ihr auch noch verkarrt werden?
Da führten sie mich in Suters Haus, wo Eddeli auf einer Madraze lag und die Augen geschlossen für immer. Herr Dr. Hess war im Zug gewesen, ist ausgestiegen und hatte unsern lieben Eddeli aus dem Geleise aufgenommen, hat ihn gewaschen und konstatierte einen Schädelbruch am Hinderkopf. Der Dr. versicherte uns, Eddeli habe durchaus keine Schmerzen empfunden.
Liebe Clara, ich konnte nie begreifen, von dem mir Eddeli unterm Fenster rief bis er Tod war, gings nicht mehr wie 1 Minute. Der Lokomotivführer gab im verhör ab, der Knabe sei daher gesprungen gekommen und mitten auf dem Geleise still gestanden. Wäre er fortgesprungen, hätte er durch gekonnt. Aber wie gebannt sei er gestanden, und auf der kurzen Strecke konnte er den Zug nicht bälder zum halten bringen. Er musste zusehen und vor Augen haben das große Unglück. Nun ich tröste mich, der liebe Gott hat es so gewollt. Für was es gut ist, wissen wir nicht. Nur für uns, liebe Clara, hätte nichts schwereres geben können. Der Liebling hat uns unendlich viel und große Freude gemacht.
Liebe Clara, ich danke dir herzinniglich für das schöne Bild, welches du uns hast zukommen lassen. Eine Miss Meta Röder von Amsterdam schrieb uns, dass man Ihr das Bild am Land übergeben habe, und sie wünsche uns guten Empfang. Da bekamen wir ein Schreiben von der Post, dass ein klirrendes Paket von Frankfurt nach Basel angekommen sei und sie es geoffnet haben, und die Glasscherben entfernt haben, und es uns zuschicken werden. Der Inhalt sei ein Kinderbildniss und weißer Stoff mit Seidenstickerei.
Das Gesichtchen ist nur auf der linken Seite etwas beschädigt. Hintergrund und Kragen sind stark verwischt. Wir glauben, wir können es wieder machen lassen. Aber wie lebendig sprechend ist das Prachtsbild, meine einzige Freude noch auf dieser Welt. Mein einziger Wunsch ist, dass ich meine liebsten vorangegangenen wieder einmal sehen werde.
Nochmals tausend Dank für deine Liebe gegen mich. Der liebe Gott möge es dir vergelten, ich kanns nicht.
Nur bitte dich, liebe Clara, doch mir nach dem lieben Lineli zu sehen, wie es ihm geht und wie es sich entwikelt. Grüße und Küsse es für mich. Empfange auch du meine herzlichsten Grüße und Küsse Deine Tieftrauernde Mutter sowie von Papa Papa leidet schwer durch den Verlust von Eddeli selig.
Man kann sich die Trauer und die Gewissensbisse der Großmutter vorstellen. Die Vorwürfe, die sie Johanna wegen der „heimatlosen“ Kinder machte, waren jedoch unbegründet. Der kleine Eddie und seine Schwester waren dem Gesetz nach amerikanische Staatsbürger, da sie in den Vereinigten Staaten geboren wurden. Diese Tatsache muss Lina Schweizer unbekannt gewesen sein. Außerdem hatte ihr Sohn Eduard bereits 1900 die amerikanische Staatsbürgerschaft für die ganze Familie beantragt, die wahrscheinlich noch vor seinem Tod bewilligt worden war. Auf der Passagierliste des Jahres 1905 ist Johanna jedenfalls als „American“ eingetragen.
Im August 1907 trafen Hans Bosshards Schwestern Ida und Rosa in New York ein. Sie waren in Begleitung des Genfer Mechanikers Henry Amédée Grenier. Er war der 11 Jahre jüngere Verlobte von Ida. Alle drei wohnten zunächst bei Hans und Johanna. Henry und Ida heirateten in New York und zogen dann – ebenso wie die Familie Bosshard – nach Tuolumne County in Kalifornien. Gemäß den Volkszählungen späterer Jahre lebten Ida und Henry Grenier in einem eigenen, hypothekenfreien Haus, hatten aber keine Kinder.
Rosa heiratete den 11 Jahre älteren Franzosen Joseph Allegre. Er war ebenfalls Mechaniker. Auch die Allegres zogen nach Tuolumne County in Kalifornien. Sie hatten vier Töchter: Louise, Marie, Marguerite und Edna Allegre.
Lina Schweizer gab Rosa Bosshard einiges mit auf die Reise für ihre Stieftochter Clara und für ihre Enkeltochter Lina. In einem separaten Brief an Clara zählte sie pedantisch alles auf, was sich in dem Paket befand, als ob sie befürchtete, dass die Bosshard-Schwestern Dinge für sich behalten würden.
„Fräulein Rosa Bosshard kam am Samstag den 13. Juli und sagte dass sie komme um Abschied zu nehmen, dass sie zu Hans gehen. Da ersuchte ich sie ob sie für dich und fürs liebe Lineli etwas mitnehmen würde, und sie sagte gerne. Da kam sie am 18. Juli, da gab ich ihr für dich 1 P. Schogolade, 1 P. weiß Handschuh und das Kopfwasser. Fürs liebe Lineli, 1 P. Schogolade, 1 schwarze Halskoralle und 1 Armband, 1 Portemonneli, Eddeli sein Ringli, wen Lineli nicht tragen kann, so sei es dem Idali vielleicht recht, ein gelber Ledergürtel und Vergissmeinnicht Ohrenringli. Dan noch Spielsachen von Eddeli selig, ein zologischer Garten, wo er jedem dieser Thiere den Nahmen gut kannte und sagen konnte, es haben sich viele aufgehalten wie er das so behalten konnte. Hatte 12 Gebete, ohne nachhilfe, schön mit Ausdruck gebetet, mein lieber Eddeli.“
Im Oktober schrieb Lina Schweizer an Clara:
Wädenswil, den 4. Oktober 1907 Liebste Clara! Ich danke dir tausendmal für den schönen großen Gummibaum, es ist eine ganz andere Sorte als mein kleiner, er schießt jetzt das 18te Blatt und ist ganz hellgrün, ich erhielt denselben vom Schulthess an dem herzlieben unvergesslichen Eddeli selig seinem Geburtstage und machte mir große Freude an dem Erinnerungstage. Ach liebe Clara wenn ich nur den Schmerz und das Heimweh nach dem lieben Kleinen besser ertragen könnte, obschon ich ja weiß, dass er am besten aufgehoben, und ein Engel im Himmel ist, so thut es uns immer noch furchtbar weh.
Gestern erhielt ich sein Bild ausgebessert und im Rothbraunen Mahagoni-Rahmen gefasst, wofür ich dir liebe Clara meinen herzinigsten Dank ausspreche, kanns dir nicht beschreiben was mir das für Freude macht, das ist noch mein ein und Alles. Willi Bauer, Heinrich Gattiker sein Schwager hat es sehr gut fertiggebracht, zum sprechen, da sagte der liebe Papa, jetzt haben wir unsern Eddeli wieder wo uns so viel Freude gemacht hat!
Liebe Clara hast du von Rosa Bosshard die Abdankung von Herrn Pfarrer Schreiber auch erhalten? Dass du davon nichts erwähntest in deinem Brief.
Es hat dir betreff dem Medailon fürs liebe Lineli nicht recht ausgerichtet, ich sagte es solle es dir geben, dann möchtest du die Güte haben und den lieben Eddeli hinein machen lassen und es Lineli zu Weihnachten geben, die Zeit war zu kurz wo ich erfahren haben wann die Fräulein verreisen, sonst hätte ichs bei Herrn Schlenker noch machen lassen.
Wohnst du in der Nähe von Bosshards? Ich lasse mein liebes Lineli and Alle herzlich Grüßen und Fräulein Rosa für Ihre mühe danken. Küsse für mich mein liebes Lineli und sorge dass es mich nicht ganz vergisst sowie den lieben Großpapa.
Empfange Indessen meine herzlichsten Grüße und Küsse von Deiner dich liebenden Mutter
Nochmals mein inigsten Dank für Alles. Die fünf Kinder von Johanna und Hans Das Leben ging weiter. Johanna und Hans bekamen fünf Kinder: Ida 1906, Hans 1908, Ewald 1911, Henry 1915 und Richard 1919.
Clara Schweizer hingegen blieb in New York. Sie heiratete 1911 im Alter von 36 Jahren den 12 Jahre älteren Witwer Charles H. Altdorfer. Charles war als 5-Jähriger mit seinen Eltern aus der Schweiz nach Amerika gekommen und seit 1886 amerikanischer Staatsbürger.
Er war ein wohlhabender Mann, was es dem Paar erlaubte, in den Jahren 1922 und 1926 mehrere Europareisen zu unternehmen. Nachkommen der Familie Schweizer erinnern sich, dass Claras Besuche jeweils viel Aufsehen erregten. Sie war die reiche Tante aus Amerika und benahm sich entsprechend.
Claras letzter Besuch in Wädenswil fand 1948 statt. Gerüchten zufolge verloren die Altorfers ihr Vermögen auf Grund von Fehlspekulationen. Ihre letzte Adresse war in der Clinton Avenue 89 in New Rochelle NY.
Johanna musste weiterhin den Verlust geliebter Menschen hinnehmen. Im Mai 1918 starb in Danzig im Alter von 20 Jahren ihre Halbschwester Charlotte Cantow, die sie nie kennengelernt hatte. Und am 16. Februar 1920 verlor sie ihren Mann Hans Bosshard. Ein zweites Mal blieb sie mit ihren kleinen Kindern allein. Sie waren zwischen 14 und einem Jahr alt.
Gemäß
der Volkszählung von 1930 lebte Johanna mit ihren drei Söhnen
Ewald, Henry und Richard in einem eigenen Haus in Tuolumne. Sie war
Hausmeisterin an einer öffentlichen Schule. Es scheint ihnen nicht
schlecht gegangen zu sein, denn sie hatten sogar ein eigenes Radio, was
in den damaligen Haushalten eine Seltenheit war. 3. Heirat mit Richard Geuss Irgendwann zwischen 1930 und 1940 heiratete Johanna den vier Jahre älteren deutschen Junggesellen Richard Carl Geuss. Er war Schreiner und 1901 aus Hildburghausen, Thüringen eingewandert. Gemäß der Volkszählung von 1920 war er ein unmittelbarer Nachbar von Johanna und Hans in Tuolumne gewesen. Er hatte dort mit seinem Onkel Charles Geuss und dessen drei Kindern Elsa, Charles und Harold gelebt.
Richard Geuss muss bald nach der Heirat gestorben sein, denn 1940 lebte Johanna wieder allein mit ihren drei Söhnen. Sie hat wohl wegen der Kinder den Namen Bosshard wieder angenommen und arbeitete weiterhin als Haumeisterin in einer Schule. Ihr Gehalt betrug $ 1‘100 pro Jahr. Ihr Sohn Hans, 31, war Bäcker und verdiente 1'650 pro Jahr. Richard, 21, bekam für seine Arbeit auf dem Fleischmarkt nur 180, obwohl nicht vermerkt ist, ob er dafür das ganze Jahr über beschäftigt war. Henry, 24, war zur Zeit der Volkszählung ohne Arbeit. Johanna Bosshard 4. Heirat mit Fred Wilkin Johannas Nachkommen berichten, dass sie 1952 ihren vierten Ehemann Fred Benton Wilkin heiratete. Er war an der Summerville Union Highschool in Tuolumne Hausmeister. Auch diesen Ehemann überlebte Johanna, wenn auch nur um acht Monate. Johanna starb am 16. Dezember 1964 in Stockton, Kalifornien im Alter von 83 Jahren. Durch ihre sieben Kinder hat sie acht leibliche Enkel und zwei Adoptiv-Enkel.
Schon während des 2. Weltkrieges waren Fred Wilkin und Johanna Bosshard befreundet, hatten aber verschiedene Adressen. Er gab sie als Kontaktadresse auf seiner Registrierungskarte an.
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Johanna Löfflers Nachkommen
Johanna Maria Elisa Löffler
* 28 Apr 1881 Danzig + 16 Dez 1964 Stockton, Alameda, California |
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1 |
Lina
Johanna Gattiker
* 5 Okt 1901 New York + 10 Mai 1991 Alameda CA |
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1 |
1 |
Carley E. Bellis
* 9 Oct 1924 Tuolumne CA |
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1 |
2 |
Roberta Felice Bellis
* 6 Oct 1925 Tuolumne CA + 14 Jul 2011 Oakland CA |
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2 |
Eduard Hermann Gattiker * 7 Sep 1903 New York + 16 May 1907 Wädenswil |
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3 |
Ida
Bosshard
* 24 Okt 1906 New York + 3 Jul 1983 El Granada, San Mateo CA |
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3 |
1 |
Frank Puriton (adoptiert) |
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2 |
Delora Purinton (adoptiert) |
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4 |
Hans
Bosshard
* 12 Dez 1908 New York * 5 Aug 1982 Stockton, San Joaquin CA |
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5 |
Ewald
Bosshard
* 10 Feb 1911 New York + 29 Mar 1978 Ashland, Jackson, Oregon |
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5 |
1 |
Beryl
Hazel Bosshard
* 25 Sep 1940 Siskiyou CA |
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6 |
Henry
(Hank) Frederick Bosshard
* 5 Okt 1915 Tuolumne Co. CA * 24 Aug 2004 Tracy, San Joaquin CA |
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6 |
1 |
Loretta Jane Bosshard
* 15 Jan 1949 San Joaquin CA |
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6 |
2 |
William Edward Bosshard
* 17 Nov 1952 Stockton CA |
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7 |
Richard Bosshard
* 7 Jan 1919 Tuolumne CA + 20 Nov 1989 San Jose, Santa Clara CA |
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7 |
1 |
Ann
Elizabeth Bosshard
* 9 Jan 1947 Santa Clara CA |
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7 |
2 |
David
Richard Bosshard
* 8 Aug 1949 Santa Clara CA + 9 Jul 2006 CA |
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7 |
3 |
Janet Lee Bosshard * 26 Jun 1951 Santa Clara CA |
Quellen
- Familienbriefe |
Die
Nachforschungen für diese Geschichten haben sehr viel Zeit in Anspruch genommen.
Das Copyright liegt ausschließlich
bei mir.
Es ist nicht gestattet, diese Geschichten oder Teile davon ohne meine Erlaubnis zu kopieren.
Copyright ©
by
Gisela Dirac-Wahrenburg